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Lageplan mit 3D-Modell ©IBD-HL

Oberbau-Rarität aus der Frühzeit der Bahn
Gleis und Drehscheibengrube in Esslingen a.N.

Sachlage und Befund zum Erhaltungszustand

Die Drehscheibe ist bis auf Reste des gemauerten Grubenrings (oberes Drittel des Kreises, orange) ) durch die 2017 angelegte Baugrube beseitigt. Der Königsstuhl, die eigentliche Drehscheibe mit den Fahrschienen und der Drehscheibenrollkranz sind verloren. In Teilen hat sich der Grubenboden aus einem Zementestrich vermutlich mit einer Drahtbewehrung erhalten. Die obere Randeinfassung zum Schutz der Mauerkrone wie auch die sich südlich anschließende Bauteile der Grube sind ebenfalls verloren.
Die Grubenreste der Drehscheibe lassen immerhin zu, die Größe der Drehscheibe mit ca. 6 m Durchmesser und die Lage und Verteilung der Blockfundamente aus fein behauenem Sandstein festzulegen. Weiterhin die Lage und die Befestigungsklemmen des Laufkranzes. Das als Straßenquerung verlaufende Gleis ausgehend von der Drehscheibe zur ehemaligen Maschinenfabrik Fritz Müller weißt einen selten erhaltenen Oberbau mit Keilbefestigung auf einer eisernen Trapezschwelle mit Schienenformat Profil C (Württ.) in einem 6 m Gleisrahmen auf.
Lageplan
Lage der Drehscheibe

Drehscheibe

Funktion und Konstruktion

Die Drehscheibe ist eine Einrichtung zum horizontalen Drehen von Schienenfahrzeugen. Sie vermittelt den Übergang einzelner Fahrzeuge zwischen den Gleisen. Sie stellt eine Verbindung zwischen zwei oder mehreren Gleisen auf engstem Raum her. Rollendes Gut kann gewendet bzw. gedreht werden. Lokomotiven oder Wagons können mit der Drehfunktion in eine gewünschte Position gebracht werden.
Man unterscheidet in:
  • Kreuzdrehscheiben bei einfachen Verhältnissen, z. B. Schienenverkehr in Straßen, im Bergbau, Industriegleisen, Auszugsgleisen zur örtlichen Bedienung und bei Feldbahnen
  • Segmentdrehscheiben (bei beengten Platzverhältnissen, z. B. in Anschlussbahnen) Brückendrehscheiben mit und ohne Schlepprahmen.
Es handelt sich um Stahlkonstruktionen, in der Anfangszeit vor und um 1900 als genietete Konstruktionen ausgeführt, bei denen Brücken aus Profilträgern die Fahrschienen zur Aufnahme der Fahrzeuge tragen. Die Drehscheibengrube ist kreisförmig oder als Kreissegment ausgebildet und kann unterschiedliche Durchmesser haben.
Modell der Drehscheibengrube mit Fundamenten für den Laufkranz 3D-Modell © IBD-HL
Modell der Drehscheibengrube mit Fundamenten für den Laufkranz - farbige Fundamente erhalten 3D-Modell ©IBD-HL
Rekonstruktion der Drehscheibe
vereinfachtes Rekonstruktionsmodell der Drehscheibe mit aufgeklappter Drehscheibe ©IBD-HL
Die Drehscheibe wird nicht in Scheibenform, sondern als drehbares Gleisstück ausgeführt und besteht im Wesentlichen aus zwei Hauptträgern, die die Schienen unmittelbar tragen. Die Hauptträger haben zusätzliche Quer- und Längsaussteifungen. Die Aussteifungen übertragen die Last auf den eigentlichen Drehmechanismus: Mittelzapfen, Laufachsen und Rollkranz.
Der Mittelzapfen ruht auf dem Königsstuhl, der in der Höhe verstellbar ausgebildet ist. Die Flächen zwischen den Schienen werden mit Blechen abgedeckt. (bei sehr frühen Konstruktionen mit Holzbohlen). Einstiegsklappen ermöglichen Ausbesserungen, Reinigung und Anstrich der Grube und der Scheibe. Die Verkleidungsbleche sind nicht genietet sondern durch Schrauben befestigt.

Wagendrehscheiben – wie im vorliegenden Fall – werden häufig als Kreuzdrehscheiben mit zwei sich kreuzenden Gleisen ausgebildet, so dass sie für zwei sich kreuzende Gleise stets richtig liegen. In unserem Fall das Auszugsgleis vom Gütebahnhof in die Fleischmannstraße (vollständig abgebaut und nicht mehr vorhanden) mit dem Gleisstück zur Maschinenfabrik F. Müller, Fleischmannstr. 20.
Kreuzdrehscheibe Wagendrehscheibe
Kreuzdrehscheibe ⌀ 36 Württ. Fuß Württembergische Staatsbahnen 1847 Quelle:EBZ 1847, No 29
Wagendrehscheibe
Eingleisige Wagendrehscheibe 6m mit Rollkranz und ohne Grundmauerwerk Quelle: Eisenbahn-Technik 1906

Gleisoberbau

Gleisrahmen 6m
Gleisrahmen 6m - 7 Stahlschwellen - gelascht - Zwangsführung (Spurrille)
Zum Oberbau der Eisenbahnen gehört:
  • das Gleis mit der Bettung, die auf dem Bahnkörper, dem Unterbau, ruht. Das Gleis besteht aus zwei auf Unterlagen befestigten Schienensträngen.
Seine einzelnen Bestandteile sind:
  • Bettung: Schotteroberbau oder feste Fahrbahn. Folgende Bedingungen müssen erfüllt sein:
    1. die Aufnahme des Druckes der Schienenunterlagen (im allgemeinen Querschwellen, selten Langschwellen oder Einzelstützen) und die weitere Verteilung dieses Druckes auf das Bahnplanum, das zur unmittelbaren Aufnahme desselben als Oberfläche des Erdkörpers im allgemeinen zu weich ist;
    2. Trockenhaltung des Gleises durch gute Wasserableitung und damit Unschädlichmachung des Frostes, an Stelle eines bis auf den festen Boden gemauerten Fundamentes, wie es andre, ähnlichen Erschütterungen und Belastungen ausgesetzte Bauwerke (Maschinen u. dergl.) zu haben pflegen, wie es aber hier zu teuer wäre und zu hartes Fahren veranlassen würde;
    3. Sicherung der lot- und waagerechten Lage des Gleises beim Neubau und den Unterhaltungsarbeiten.
  • Schwellen: Langschwellen, Querschwellen oder Einzelunterstützungen. Die Schwelle überträgt den Druck unter weiterer Verteilung auf das Bahnplanum.
  • Befestigung: Schienenbefestigung auf den Schwellen. Die Befestigungsmittel koppeln die Schiene mit der Schwelle zu einem Gleisrahmen. Der Rahmen (das Gleis) muss verdreh- und schubsicher sein. Die Schiene darf sich weder in der Längsrichtung verschieben, noch umkippen oder verdrehen. In Deutschland gängige Befestigungsverfahren sind auf Betonschwellen der Oberbau W, auf Holzschwellen eine Variante des Oberbaus K.
  • Schienen mit den zu ihrer Längs- oder Stoßverbindung dienenden Teilen.
    1. Die Schienen sind die Fahrbahn und die Leiter der Räder der Fahrzeuge; sie müssen eine ebene, stetige Oberfläche und eine den Radlasten entsprechende Tragfähigkeit haben. Der Druck der auf den Schienen rollenden Lasten und die mit dem Betrieb verbundenen Erschütterungen werden durch die Unterlagen (Schwellen), unter Verteilung auf größere Flächen auf die Bettung übertragen.
    2. die Schienenunterlagen und die Mittel zur Befestigung der Schienen auf den Unterlagen.

Gesamte Stichgleislänge Drehscheibe bis Ende Halle = 43,65 m

Stücklung

  • 6,00 m (ab Drehscheibe Schienenprofil C)
  • 6,00 m
  • 6,00 m
  • 1, 40 m (Passstück)
  • 6,00 m
  • 1,43 m (Passstück)
  • 4,61 m
  • 1,435 m (kleine Drehscheibe in der Halle)
  • 3,30 m
  • 6,00 m
  • 1,48 m (Schienenformat D Krupp 1885) ursprünglich bis auf den Innenhof
Grundriss EG (Ausschnitt)
Maschinenfabrik Fritz Müller, Esslingen
In der Mitte der Abbildung Stichgleis mit ursprünglich 2 Drehscheiben. Die 1. Drehscheibe noch in Form von Einschnitten in den Schienen sichtbar. Das Stichgleis ist heute in der Höhe der hinteren Hallenwand abgeschnitten.
Schotteroberbau
Schotteroberbau aus Kiesschicht mit Asphalt- oder Betonabdeckung

Bettung                  Schotteroberbau (SchO) mit Asphalt und Betonabdeckung

Schwellen

  • Alter:                  1875 – 1885
  • Material:            Eisen-Schwelle (E-Sch) (Flusseisen= Bessemerstahl), gewalzt
  • Form:                 Trapez- bzw. Dachform (System Vautherin)
  • Hersteller:         unbekannt (keine sichtbaren Walzzeichen gefunden)
  • Abmessung:     L = 2400 mm; H = 70 mm; Fußbreite = 210 mm; Fußränder = 23 mm; Kopf = 115 mm
  • Schenkel:          65 mm (Länge)
  • Dicke:                 10 mm (Material)
  • Abstand:           750 mm (Fußpunkte)
  • Oberfläche:      nachträglich mit einer Art  Schutzanstrich  überzogen

Schienenstoss

schwebender Schienenstoss
beidseitige Flachlasche mit 4 Laschenbolzen

Zwangsführung
auf der Innenseite für Spurrille (einseitig gelascht)
Abstand ca. 50 mm; 15 mm Walzeisen (L-Profil ?) über Spurstangen fixiert

Schienenstoss
schwebender Schienenstoss mit Flachlasche (4 Laschenbolzen) (Wü Profil C) und Zwangsführung (15 mm Walzeisen vermutlich L-Profil mit Spurstangen)
Form
Material
Hersteller
Maße (mm)
württ. Profil C
Flusseisen (Bessemerstahl) unbekannt
H : ∼ 110 K : ∼ 63 F : ∼ 105
Württemberg Profil C
Württemberg Profil C
Form
Material
Hersteller
Maße (mm)
württ. Profil D
Thomasstahl
KRUPP 1885 (WZ)
H : ∼ 129 K : ∼ 58 F : ∼ 104
Wü Profil D
Wü Profil D KRUPP 1885 mit Doppelwinkellasche

Befestigung

Keilbefestigung

Keilbefestigung (Vautherin)
Keilbefestigung nach Vautherin

Variante der Keilbefestigung nach Vautherin

Die Zauberformel heißt nicht Abrakadabra, sondern:

Keilbefestigung

Wü Profil C

ESchw (Trapez)

Sch + 7
6m

∼ 85

Keilbefestigung
2 Krampen + Keil

württemberg. Schienprofil C

eiserne Schwelle mit Trapezform

schwebender Stoß – 7 Schwellen
6 m Gleisrahmen
Schwellenabstand ∼85 cm
Keilbefestigung – württemberg. Schienenprofil C – eiserne Schwelle (Trapezform) – schwebender Stoß – 7 Schwellen in einem 6m Gleisrahmen – Schwellenabstand von ∼85 cm

Fazit

Die Gleisformel für die Oberbauform oben verweist auf einen nicht alltäglichen Oberbauschatz, der unter der Asphaltdecke der Fleischmannstraße verborgen liegt. Ein Eisenbahnoberbau der Länderzeit mit eiserner Trapezschwelle (in Anlehnung an die Form Vautherin), eine Befestigung der Schienen mit Klemmkrampen und Keil und  Schienen Württ. Profil C in einem 6 Meter Gleisrahmen mit 7 Schwellen und schwebendem Stoss mit ∼ 85 cm Abstand.
Dieser Form des Bahnoberbaus dürfte sowohl regional als auch länderübergreifend von höchster Seltenheit sein.
Das kurze Gleis, das vermutlich durch mehrfache Bauarbeiten in der Straße gestörte wurde, quert die Straße ausgehend von einer stark gestörten Drehscheibengrube auf öffentlichem Grund. Es wird über die Straßenquerung hinaus auf privatem Areal bis in die Halle der ehemaligen Maschinenfabrik Fritz Müller fortgeführt. Hier liegt der Gleisrahmen unter bzw. zwischen einer neueren Betonabdeckung. In der Halle deutet sich noch innerhalb des Gleises der Ansatz einer weiteren, kleineren Drehscheibe an. Wie oben bereits angemerkt hat diese Oberbauart höchsten Seltenheitswert und bedarf in jedem Fall des Schutzes. Im Rahmen der Umbauarbeiten der Fleischmannstrasse muss diese Sachlage in jedem Fall berücksichtigt werden. Der Schutz des Objektes genießt dabei aus der Sicht der Industriearchäologie höchste Priorität. Die Sicherung der noch erhaltenen Gleisrahmen ist umso bedeutsamer, da durch die Neubauten entlang der Südseite der Fleischmannstraße und des ehemaligen Güterbahnhofs das baugleiche Ausziehgleis für die Anbindung restlos beseitigt wurde. Das gleiche gilt für die Reste der Drehscheibe, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zubringergleis zur Fabrik F. Müller gesehen werden muss. Die Sachlage bei der Drehscheibe ist ähnlich zu sehen wie bei dem Gleis. Es ist nur noch das obere (nördliche) Segmentdrittel der Drehscheibengrube mit Mauerring, Teile des Grubenbodens und Fundamentsteine für den Rollkranz vorhanden, der Rest ist bei der Einrichtung der Baugrube zerstört und weggebaggert worden. Auch hier gilt es meiner Auffassung nach, die für die Erkenntnis der Bauart nicht unerheblichen Reste zu sichern, die Drehscheibengrube freizulegen, den Aushub nach weiteren Resten der Drehscheibe zu untersuchen und in situ zu belassen.

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